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Dokumentation und Wirklichkeit 2: Von Cinema verité zum Re-enactment



Nachdem der erste Teil dieser Überlegungen zur Entwicklung der dokumentarisch-fiktionalen Mischformen mit dem Aufkommen des Cinema verité endete, beginnt der folgende zweite Teil mit dem selben Phänomen und versucht, die mit dem Cinema verité verbundenen langfristigen Änderungen herauszuarbeiten.

Relativ unbestritten dürfte wohl sein, dass mit Cinema verité und all den verwandten Phänomenen mit und ohne gesonderten Namen wie direct cinema und ähnlichen Tendenzen in anderen Ländern, eine Veränderung des Authentizitätsverständnis einherging. Gleichzeitig wurde eine Ikonographie der Authentizität gefunden. Wie stark sich diese Ästhetik hielt, die den technischen Nebeneffekten der in den 60er Jahren üblichen 16mm-hand-held-cameras geschuldet war und die sich am Aussehen von unter widrigen Bedingungen gedrehten Nachrichtenbildern orientierte, lässt sich an Filmen wie "The Blair Witch Project" ablesen.
Schwarz-weiss, krisselig und unscharf: so sieht "authentische Wirklichkeit" aus.

Interessant auch, dass bereits in den späten 60er Jahren Filme entstanden, die diese Bildsprache zitierten und ironisierten. Jeanne Hall (1998) nennt in ihrem Artikel einige Beispiele wie die berühmte Szene, wie die Kamera Bob Dylan auf die Bühne folgt aus "Don't Look Back" zur Ikone wurde und so in immer absurderer Weise zitiert werden konnte.



Es scheint kein Zufall zu sein, dass ungefähr zum selben Zeitpunkt (Ende der 60 Jahre/ Anfang der 70er Jahre), fiction-Films, die sich dokumentarischer Formen bedienen wie Pilze aus dem Boden spriessen. Um nur einige zu nennen: "Tout va bien" (Godard), "Liebe Mutter, mir geht es gut" (Christian Ziewer), "Cathy Come Home" (Ken Loach), "The War Game" (Peter Watkins).

Und an dieser Stelle scheint mir auffällig, dass es vor allem im weiteren Sinne politische Kontexte sind, in denen diese Formen entwickelt und für einige Zeit genutzt werden. Wohl nicht zuletzt, um die Dringlichkeit der Probleme, die angesprochen werden zu unterstreichen.

So funktionieren auch die Filme von Helke Sander und Christina Perincioli, die ich hier angesprochen habe nach dem Muster eines Doku-dramas mit der Besonderheit, dass die Schauspielerinnen sich selbst spielen und durch die politische Arbeit mit den Filmemacherinnen der Kontakt zu stande kam.

Im Sinne der progressiven Idee des Cinema veritè, das die Frage "wer spricht für wen?" überhaupt erst aufs Trapez brachte, stellen diese Filme also eine Versöhnugn der Frage der Repräsentation mit der Bevorzugung fiktionaler Form (und also offen dramatisierten Aufbaus) dar.



Zeitgleich mit diesem Phänomen tritt - wenn ich das recht überschaue - der Begriff des fake zunehmend ins kunst- und filmtheoretische Interesse. Einen filmhistorischen Fixpunkt stellt dabei sicherlich Orson Welles "F for Fake" über das Fälschergenie Elmyr de Hory. Der Film ist bekanntlich unter anderem deshalb in filmtheoretischer Hinsicht so wichtig, weil er eine Analyse in Bildern des Phänomens des Fake versucht.
Zu "F for Fake" siehe auch Stefan Römers Dissertation von 1998 (Link unten).

Andere Akteure, die Fakes in den Medien verankerten waren sicherlich die beiden BBC-Serien "The Goodies" und die allseits bekannten "Monty Python". "The Goodies" mit ihren fake-Werbeunterbrechungen sind dabei für alle die diese geniale Serie noch nicht kennen durchaus eine Entdeckung wert...



Das grundsätzliche Problem scheint mir nun zu sein, wie die einzelnen Spielarten von fiction-doc Mischungen voneinander abzugrenzen sind.

John Corner hat in seinem Buch "The Art of Record" von 1996 eine Unterscheidung zwischen dramatized documentary und docu-drama vor. Wobei ersteres eine Form bezeichnet, die von der Dokumentation ausgeht und - etwa durch Re-enactment Szenen integriert, während Docudrama eher fiktionale Formen bezeichnet, die sich dokumentarischer Elemente oder Formen bedienen. Für eine Einschätzung der Entwicklungen im deutschen Fernsehen siehe Wolf (2005).
Dem wären mindestens noch die Begriffe Fake und Mockumentary zur Seite zu stellen. Fake und Mockumentary verwende ich hier annähernd deckungsgleich, auch wenn es bei genauerer Betrachtung durchaus sinnvoll sein kann, die beiden Phänomene zu trennen (vgl etwa Roscoe/Hight 2001).

Schwierig wird die Abgrenzung dadurch, dass sich Formen und deren Reflektionsgrad im Film und die politische Beurteilung des Inhalts oft überlagern. Und natürlich ist der Grad, in dem Zuschauer ein Fake als Fake und ein Docudrama als Fiktion erkennen, schwer einzuschätzen und so neigen Statements zu diesen Phänomenen oft genug dazu, diese in Bausch und Boden zu verdammen oder zu verteidigen.

Und während die hundertste nachgestellte Szene in einer auch sonst eher verblödenden Guido-Knopp-Sosse sicher nicht erhellend ist, ist gegen weniger exponiertes Re-enactment gar nix einzuwenden. Womit ich mal wieder bei der Feststellung lande, dass politische Auseinandersetzungen eben am besten politisch und nicht ästhetisch geführt werden.

Der Unterscheid zwischen intelligentem Fake und hummtata lässt sich übrigens auch an Original (The Office) und dümmlicher Nachahmung (Stromberg) sehr gut illustrieren.


Literatur:

Jeanne Hall: "Don't You Ever Just Watch?" - American Cinema verité and Don't Look Back, in: Barry Keith Grant und Jeannette Sloniowski (Hg.s): Documenting the Documentary - Close Readings of Documentary Film and Video, Detroit: Wayne State University Press 1998, S. 223-237

Stefan Römer: Der Begriff des Fake, Dissertation bei Horst Bredekamp von 1998: Link

Jane Roscoe und Craig Hight: Faking it - Mock-dockumentary and subversion of factuality, Manchester/ New York: Manchester University Press 2001

Fritz Wolf:Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen (Referat: Dokville, 2. Juni 2005, Ludwigsburg)

Margrit Tröhler: Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden Fiktion – Nichtfiktion – Narration in Spiel- und Dokumentarfilm, in Montage AV 11.Jg. [2002], H. 2


zu "F for Fake":
Jonathan Rosenbaums Essay für die Criterion Collection Ausgabe des Films
Orson Welles's Purloined Letter: F For Fake

Robert Castles
F for Fake - The Ultimate Mirror of Orson Welles

zu Dokudrama
screenONLINE Artikel zu
Drama documentary

Ib Bondebjerg: The Social and the Subjective Look: Documentaries and reflexive modernity, 2003

Christine Leishman: ‘People know me really well’: Jane Macdonald and the Construction of Authenticity in The Cruise

orcival 19. Dezember 2006 (0 Shpiel) filme und wirklichkeiten
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