Und genau das schent nun passiert zu sein. So trifft die Behauptung, die durch die Medien geisterte, dass "Casino Royal" gewissermassen die Vorgeschichte der bisherigen Bonds darstellt, nur teilweise zu; während nämlich Bond selbst sich seinen Doppel-Null-Status erst erwerben muss, wir mithin den Beginn von Bonds Karriere erleben, befinden wir uns zeitlich im Jetzt und M darf relativ zu Beginn des Films dem Kalten Krieg hinterher trauern.
Um die Handlung kurz zu umreissen: Bond ist auf der Fährte eines Kartells, das mit Geldern aus allenmöglichen zwie- bis vollkommen unlichtigen Geschäften spekuliert. Als der Finanzchef dieses Kartells 'Le Chiffre' (gespielt von Mads Mikkelsen, was zuinteressanten Diskrepanzenführt wenn man ihn noch aus "Adams Äpfel" erinnert; diese Parallele wird übrigens durchaus verstärkt durch 'Le Chiffres' Kennzeichen Blut zuweinen) durch die Vereitelung eines Anschlags (durch wen wohl?) viel dieses Geldes verliert, muss er das Geld durch ein hoch karätiges Pokerspiel zuruckgewinnen.
Es ist ein wenig schwer, "Casino Royal" unabhängig von der Frage der Um- beziehunsweise Neuinterpretation der Figur des James Bond zu sehen.
Was die filmische Umsetzung der Romanvorlage angeht dürfte man wohl der Version mit David Niven von 1967 den Vorzug geben, wenn man - aus welchen Gründen auch immer - jedoch willens ist, die Zeitgeist-Variante des Mythos Bond für relevant zuerachten, so ist "Casino Royal" in vielerlei Hinsicht viel versprechend:
Mindestens zwei Faktoren scheinen mir für die Uminterpretation wichtig: die ist zum einen eine Entschlackung der Figur von all jenen Phrasen, die sich mit der Zeit angesammelt haben wie "geschüttelt nicht gerührt", "mein Name ist Bond, James Bond"und so weiter. In diese Sparte fallen auchder Verzicht auf affektierte Betonung der "britishness" von Bond und das Zurückschrauben der Technikspielereien auf ein high-tech-Medipack im Handschuhfach. Besondes charmant an diesem ist übrigens, dass es im entscheidenden Moment versagt.
Zum zweiten scheint mir eine Tendenz zur ent-personalisierung des Gegenübers angelegt zu sein. Dies einerseits, weil auch 'Le chiffre', der am ehesten dem Super-Bösewicht der Tradition entspricht, eingebunden ist in ein Netzwerk von Bösewichtern. Zum anderen ist 'Le chiffre' keine blosse Ansammlung megalomaner Spleens, sondern durchaus eine Variante des Typus Geschäftsmannes.
Über den Gedankensprung dass jenes Netzwerk hinter 'Le chiffre' durchaus mafiöse Züge trägt und die Frage, ob nicht die Mafia in klassischer Form eine unregelmentierte Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft darstellt, liesse sich an dieser Stelle eventuell die These aufstellen, dass diese Transformation ein Ende jener Konstruktion eines äusseren Feindes bedeutet wie sie der Kalte Krieg nahelegte und es nun eher um eine Grenzziehung zwischen erlaubten und unerlaubten Zwecken bestimmter Handlungsweisen geht. Also eines eher systemimmanenten Feindes.
Bevor ich zum Schluss meiner Überlegungen zum eigentlichen Film komme noch einige Bemerkungen zwei weiteren Komplexen.
Ich beginne mit dem Thema der Konstruktion der Figuren, um dann abschliessend einige Beobachtungen zur Änderung der Struktur von "Casino Royal" gegenüber der Tradition der Bond-Filme zu äussern.
Im Bezug auf die Konstruktion der Figur des James Bond lässt sich im Anschluss an jene Beschränkung der Technik, die ich oben schon angesprochen habe, eine stärkere Körperlichkeit beobachten. Dass dies durchaus intendiert sein dürfte, scheint mir die in einenarcour übersetzte Verfolgungsjagd am Anfang des Films zubelegen. An der Stelle dieses Parcours stand bei den "klassischen" Bond-Filmen stets eine Verfolgungsjagd, die sich dem jeweiligen geographischen Setting entsprechender Technik bediente. Dass nun eine Verfolgungsjagd tritt, die auf reiner Geschicklichkeit und körperlicher Kraft basiert, bedeutet eine Verschiebung weg vom Gentlemen-Agenten, der in jeder Situation gut aussieht und dem Gegner ein Schnippchen schlägt (und dies meist nochsüffisant kommentiert), hin zu einem Agenten, der mit einem hard-boiled Privatdetektiv gekreuzt wurde. Dieser Typus Bond kann scheitern, einstecken und sich trotzdem durchbeissen. Gleichzeitig betont diese neue Bond-Interpretation eeher noch ein klassisch muskelbetontes Männlichkeitsverständnis, gegenüber dem alten eher dandyhaften Bondverständnis.
Interesanterweise scheint diese Bondinterpretation eine Modifizierung der Frauenrollen zu erlauben, die zumindest die ärgsten Sexismen unterlässt. Konkret führt dies in "Casino Royal" dazudass die Rolle des "Bond Girls" aufgesplittet wird in eine Affäre in der ersten Hälfte des Films und eine Partnerin in der zweiten Hälfte.
Es ist vor allem die zweite Rolle, die eine Veränderung bezeichnet, denn gerade Eva Green stellt in ihrer Rolle als Vesper "das Geld" Lynd von dem Bond abhängig ist, eine wohltuende Abkehr von der Idee des "Bond Girls" dar, deren Daseinsgrund sich zumeist im Sich-im-Bikini-räkeln erschöpfte.
Dass Frauenrollen in Bond-Filmen nun zum Hort emanzipativer Rollenbilder geworden ist, will ich damit natürlich nicht sagen, aber zumindest reduziert sich das Ärgernis auf ein Level wie bei anderen Mainstream-Produktionen.
Einer der Punkte bei denen die Neudefinition des Genres "Bond-Film" am wenigsten gelingt ist sicherlich die Struktur von "Casino Royal". An einigen Punkten wie bei der oben bereits besprochenen Verfolgungsjagd deutet der Film die übliche Abfolge der Elemente erfolgreich und interessant um; an anderen Stellen wie dem "Trugschluss" mit Vesper Lynd (Eva Green) in Venedig spielt er gar mit der Seherwartung. Nur: eben an dieser Stelle hängt der Rhythmus des Films durch und während die Gefahr der Langatmigkeit der wenig action-haltigen Pokerszenen durchmehrfaches Unterbrechen erfolgreich vermieden wurde, sinkt an der Stelle des Semi-Finales die Spannungskurve bereits auf den Nullpunkt und siecht mühselig noch etwa 20 Minuten dem Ende entgegen.
Mit "Casino Royal" wurde Bond von einer anachronistischen und veralteten Figur in eine Figur für eine Reihe von zeitgemässen Agentenfilmen übersetzt. Viel des positiven Eindrucks, dender Film hinterlässt, hat er jedoch auch dem unterirdischen Niveau seiner Vorgänger seit ungefähr 1985 zu verdanken. Inwiefern Bond als Figur überlebt, ob er noch zu interessieren vermag werdenwohl erst die nächsten Filme zu zeigen vermögen.
EPILOG:
Einer der Teile, die normalerweise stillschweigend übergangen werden an Filmen ist der Vorspann. Es ist zwar durchaus üblich diese als quasi in den Film integrierten Kurzfilm zugestalten, Erwähnung oder gar Kritik finden sie trotzdem nur selten.
Im Falle des Bond-Films konnte ich mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass der Vorspann einer der besten Teile des Films war.
Wie es den Machern des Vorspanns gelingt, diesen einerseits von jener 60er-Jahre-Edelsoftporno-Ästhetik zu entschlacken und trotzdem ein gewisses Sixtiesflair zu bewahren, das allein verdient Anerkennung. Dass darüber hinaus aber die Kombination einer linienhaft-ornamentalen Animation wie sie in den60er Jahren verbreitet war (man denke an Cartoons wie "Der Inspektor") mit flächigen Elementen, die an Flashanimationen erinnern, gelingt, trägt viel zu dem unverbauten Einstieg in den Film bei.
Es stört einzig der Titelsong.
orcival
15. Januar 2007
(1 Shpiel)
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Wie ich gerade sehe, wird Dalia Hagers und Vidi Bilus Film "Close to home / Karov la bayit" im März in Deutschland in die Kinos kommen.
Der Film über zwei israelische Frauen, Smadar und Mirit, die ihren Wehrdienst auf Patrouille in Jerusalem verbringen, hat mir auf der Berlinale letztes Jahr recht gut gefallen. Die Art wie Hager und Bilu den Alltag der beiden Soldatinnen darstellen, nicht zuletzt die Frage, wohin will ich versetzt werden, um möglichst weit von meinen Problemen weg zu sein, all das sind filmisch interessant gestaltete Einblicke in den Alltag von Frauen in der israelischen Armee, hier der מג"ב / Magav (so einer Art Grenzpolizei). Dabei ist Mirit, die eher schüchterne, während Smadar den Typus harte Schale was-weiss-ich-was-für-ein Kern (schliesslich sind wir ja alle keine Essentialisten, ne...) verkörpert.
Der Film beginnt in einer Kontrollstation, in der Smadar und ihre Kolleginnen arabische Frauen kontrollieren sollen. Da Smadar die Kontrolle in der Szene in Anwesenheit ihrer Vorgesetzten durchführt, muss sie alle Vorschriften strikt einhalten, was die bei den Kontrollen notwendige Genauigkeit noch indiskreter erscheinen lässt.
Viel des Humors der Films besteht denn auch später darin, dass die Patrouillen immer wieder un-dienstgemäss shoppen gehen oder sonst ihren individuellen Interessen folgen und dafür ein Netz gebildet haben, um sich vor den Kontrollfahrten ihrer Chefin zu warnen.
Bei allem Humor übertüncht der Film aber nicht die Angst und das Chaos, die dann ganz plötzlich wieder da sind, als Mirit und Smadar zu einem Anschlag gerufen werden.
Der kleine Malus, den der Film bei mir hatte, ergab sich daraus, dass es bisweilen so angelegt zu sein scheint, dass sich zwischen den beiden Protagonistinnen mehr als gute Freundschaft entwickelt. Allerdings wird das nicht weiter thematisiert und so stand ein wenig die Vermutung im Raum, dass der Queer-Faktor nur noch mit abgegriffen werden sollte. Was schade ist, weil es den Film durchaus noch über das schon vorhandene Mass hinaus bereichert hätte.
Wer weiter lesen will, hier noch eine Besprechung zu "Close to home", die vor allem die Szene in der Kontrollstation schön beschreibt.
orcival
12. Januar 2007
(2 Shpiels)
gefangen in Bildern der Kamera
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"The Wind that shakes the Barley" ist einer der Filme, bei denen es schwer ist das ästhetische Urteil vom Urteil über den politischen Gehalt zu trennen.
Ken Loachs neuester Streich handelt, um die Handlung eingangs kurz zu umreissen, vom irische Unabhängigkeitskampf in den 20er Jahren. Dieser wird anhand der beiden Brüder Teddi und Damien O'Sullivan und Damiens Geliebter Sinead aufgerollt.
Loach zeigt die Grausamkeiten der britischen Besatzer nur anfangs, um zu zeigen wogegen sich der Aufstand primär richtet.
Die Stärke des Films liegt eher darin, dass Loach diese Darstellung des Kampfes gegen die Besatzung bald in den Hintergrund treten lässt und die Ausseinandersetzung über die Art wie und wofür man kämpfen soll, in den Vordergrund treten lässt.
Dieser Diskussion verdankt der Film auch durchaus seine besten Momente.
Etwa wenn Damien auf Befehl seinen langjährigen Freund Chris erschiesst, eine Szene die später in der Erschiessung Damiens durch seinen Bruder gespiegelt wird. Auch die Figur des Lokführers Dan, den Damien bei seiner Verhaftung im Gefängnis wiedertrifft, trägt durchaus zur Reflektionsfähigkeit des Films bei.
Dan verkörpert dabei den Veteran der schon lange für ein unabhängiges Irland kämpft, und nicht nachlässt, die Verschränkung diesen Kampfes mit einer sozialen Umwälzung einzufordern.
Mit diesem Personal, Teddi, Damien und Dan beleuchtet Loach die Konflikt und Probleme innerhalb des Kampfes. Dies sind zum einen, die oben angerissene Frage inwieweit der Kampf ein nationalistischer Befreiungskampf ist oder ein politischer Kampf für eine andere Gesellschaft. Weitere Probleme tun sich bei der Wahl der Mittel und der Frage auf, welche Kompromisse man bei diesem Kampf eingehen sollte.
In diesem politische Rahmen greift der Film bei aller Sympathie dafür, dass er versucht, der pauschalen Verurteilung jedweden bewaffneten Kampfes zu entgehen, insofern zu kurz, als er etwa die Frage, was es für die breitere Akzeptanz einer Auseinandersetzung bedeutet, wenn die Frage der Mittel sich verselbstständigt hat, nicht weiter diskutiert.
In Teilen wir diese Frage aufgegriffen, wenn Teddi, der später Repräsentant des neuen irischen Staates von britischen Gnaden wird, sich weigert, die Verurteilung eines wuchertreibenden Geschäftsmannes zu akzeptieren und fordert, die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung bis zur Vertreibung der Briten aus Irland zurückzustellen.
Neben der Thematisierung der Mittel ist diese Szene aus mindestens zwei Gründen eine Schlüsselszene; zum einen, weil die Wahl des Verurteilungsgrundes 'Wucher' sicher kein Zufall ist, und leider einiges über die Art verrat, wie Loach meint, Trennungslinien gesellschaftlicher Kämpfe umreissen zu müssen. Diese verlaufen bei Loach zwischen anscheinend zwischen dem guten "einfachen Volk", das der Verteidigung durch waffentragende junge Männer bedarf, und den bösen "wuchernden Kapitalisten", die man höchstens aus pragmatischen Erwägungen zeitweise duldet.
Die andere Konfliktlinie, die sich an dieser Szene aufmachen lässt, ist die gute alte Genderfrage. Fällt doch an dieser Stelle auf, dass die Vrurteilung durch die Richterin Lily überhaupt erst diskutiert wird, als diese Teddi in den Gerichtsraum zurückzitiert.
Offenbar ist dieses Vorgehen ansonsten Gang und Gäbe. Vollends reaktionär wird die ganze Genderchose, wenn das Urteil und der diesem zugrundeliegende Auffassung Lilys erst durch Damien Gehör verschafft werden muss. Diese Szene und die auch sonst auffällige Nicht-präsenz und Passivität der Frauenrollen, versieht den emanzipativen Anspruch, so er denn - was aber wohl nicht ganz zu Unrecht zu vermuten steht - vorhanden ist, mit einem nicht unerheblichen Fragezeichen versieht.
Die letzten zwanzig Minuten des Films zählen auch deswegen zu seinen schwächsten Momenten, weil Loach die politische Diskussion in ihnen zurückstellt und uns mit der melodramatischen Auseinandersetzung der beiden Brüder ein ach so menschliches Rührstück serviert.
Es sind wohl Episoden wie diese gewesen, die Ulrich Felsberg auf radio eins dazu brachten Loach als "grossen Humanisten" zu bezeichen. Und Humanist muss hier wohl leider als entpolitisiertes Produzieren individualisierender Rührstücke gelesen werden.
In mehr filmischer und vielleicht ästhetischer Hinsicht neigt der Film, ich habe das oben schon angesprochen dazu die politischen Veränderungen dadurch zu betonen, dass in verschiedenen Kontexten die gleichen (Un-)taten geschehen. So wird etwa der Hof von Sineads Familie zum Dauerspiegel des Geschehens. Das funktioniert bisweilen durchaus, wirkt aber auf die Dauer symbolistisch überhöht und eher ermüdend.
orcival
3. Januar 2007
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Was mir grad ausserdem in die Griffel gefallen ist, ist ein Interview mit Lutz Dammbeck. Dessen "Das Netz" war zwar etwa im Vergleich mit "Zeit der Götter" eher nicht der grösste aller Filme aber Interviews mit ihm lohnen sich erfahrungsgemäss durchaus.
Hier wär ein Exemplar: Klick.
orcival
19. Dezember 2006
(0 Shpiel)
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Und danach erfreute-überraschte Findermeldungen gekriegt.
Deshalb annonciere ich hier mit offiziell:
Es gibt Ken Wardrops famosen Kurzfilm "Useless Dog" bei Du-Schlauch...
orcival
18. Dezember 2006
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Von reenacted newsreels bis Cinema verité
Deshalb hat es mich schon erstaunt, dass ich als ich zu der Entwicklung und den Zusammenhängen von Cinema verité und der Welle von Mischformen des dokumentarischen und des fiktionalen in den frühen 70er Jahren Literatur suchte auf Anhieb eher nichts gefunden hab.
Es gibt natürlich jede Menge Texte zum Cinema verité als solchen, und genauso gibt es einige Texte (wenn auch nicht übermässig viel) zu besagten Mischformen. Letzteres meist entweder unter dem modischen Begriff des 'fake' bzw der 'mockumentary' oder als Untersuchung des vor allem angelsächsischen docudrama.
Vorweg eine kleine Bemerkung zum Stil: dies ist eher eine Art Leseprotokoll, das ich zugänglich mache, weil es wie gesagt wenig zu der Entwicklung der Doku-fiktion im deutschsprachigen Raum gibt. Vieles m+sste besser und mehr belegt werden und oft auch noch genauer untersucht. Wenn ihr Hinweise habt, freu ich mich, wenn ihr die Kommentarfunktion nutzt...
Die Geschichte der Mischformen beginnt wahrscheinlich, wie beispielweise Parker Taylor (1979:252ff) ausführt, mit Newsreels um die Jahrhundertwende, die sich fiktionaler Bestandteile bedienen, um - ohne vor Ort gewesen zu sein - den heimischen Zuschauern Bilder von aktuellen Ereignissen liefern zu können.
Diese fiktionalen Elemente scheinen in diesem Kontext zunächst akzeptiert worden zu sein, inwiefern sie als fiktional oder wahr wahrgenommen wurden, ist wohl nicht abschliessend zu beantworten.
Einen ersten Einschnitt stellt, auch hier folge ich Taylor (254), die dezidierte Ablehnung von Films dar, die als authentische Frontaufnahmen des Ersten Weltkrieges vermarktet wurden. Zu diesem Zeitpunkt ist also so etwas wie Authetizität oder, wie Taylor vielleicht zu recht vorsichtiger formuliert, das eyewitness element bereits ein Beurteilungskriterium für Dokumentationen.
Einer der frühen Meilensteine des Fiktionalen, das sich dokumentarischer Elemente bedient, ist fraglos Orson Welles Adaption des H. G. Wells Klassikers "The War of the Worlds", die am Halloweenabend 1938 die Massen bewegte. Die Art wie Welles, die Handlung in eine fiktionale Radiosendung integriert, funktioniert noch heute erstaunlich gut.
Während des Zweiten Weltkrieges gibt sind es vor allem Propagandafilme, die oft eine Kombination von Dokumentation mit Fiktion benutzen. So gibt es unzählige Beispiele von Filmen, die dazu dienen sollten, den Alltag an den verschiedenen (Kriegs-)Schauplätzen zu zeigen, die durch fiktive Hauptcharaktere ansprechen sollten. John Corner (1999:36) spricht an dieser Stelle von story documentary.
Spätere Formen von Doku-fiktionen sind wie Tom W. Hoffer und Richard Alan Nixon bemerken, von reality based Radio-Serien beeinflusst. Dies trifft wohl vor allem auf die Art der Adaption wahrer Geschichten zu.
Ein anderer Punkt, der mir bislang wenig untersucht scheint, ist die Frage, ob und wie die politische Nutzung von solchen Anleihen bei der Realität bewertet wurde.
Eine These, die in diesem Zusammenhang wohl zu untersuchen wäre, ist die, ob es eventuell einen Zusammenhang zwischen den Sozialkinos der späten 40er bis 50er Jahre, wie etwa dem Neo-Realismus gibt. Auf den ersten Blick könnte es durchaus scheinen, dass die Art wie einige dieser Filme versuchen auf eine Realität, die nicht zur Kenntnis genommen wird, hinzuweisen, einen Anstoss für dem Cinema verité verbundenes Dokumentarfilmen war.
Die politische Intention der Sozialkinos, Wirklichkeit zu zeigen, und dadurch eine Veränderung zu fordern, bediente sich bisweilen Laien(-schauspielern), um eine authentische Atmosphäre zu erzeugen.
In mindestens zwei Hinsichten stellt Cinema verité, direct cinema oder cine-pravda eine Weiterentwicklung oder Reaktion auf diese Ansätze dar:
zum einen ist es politisch sicherlich wirkungsvoller die Wirklichkeit, die man geändert sehen will, nicht zu inszenieren, sondern "nur" zu filmen. Viel der Schlagkraft des Arguments hängt also an der Vermittlung des eyewitness elements.
Zum anderen heisst, nicht länger Schauspieler zu nutzen bzw die Laienschauspielern nicht länger Rollen sondern "sich selbst" spielen zu lassen, den Subjekten des Films zu erlauben für sich selbst zu sprechen, wie Jeanne Hall (1998:225) mit Verweis auf Allen und Gomery richtig bemerkt.
Diese Veränderungen des Settings von politisch intendierten Dokumentationen wurden möglich durch die technische Entwicklung kleiner handlicherer Kameras, die eine Person alleine bedienen konnte. Der Erfolg dieser Filme der späten 60er Jahre wird nicht zuletzt damit zu erklären sein, dass die Filme sich in den Film übertragener genuin journalistischer Mittel bedienten. Damit wurde eine Art Ur-Indymedia geschaffen.
Kleine Fussnote: die Bezeichnung Cinema verité geht auf Vertovs Ausdruck cine-pravda (wahres Kino) zurück. Das Gegenteil, unterhaltsames nicht-emanzipatives Kino, nannte Vertov cine-vodka.
Literatur
John Corner: British TV Dramadocumentary: Origins and Developments, in: Alan Rosenthal (Ed.): Why Docudrama? - Fact-fiction on Film and TV, Cabondale / Edwardsville: Southern Illinois Universoty Press 1999, S. 35-46
Jeanne Hall: "Don't You Ever Just Watch?" - American Cinema verité and Don't Look Back, in: Barry Keith Grant und Jeannette Sloniowski (Hg.s): Documenting the Documentary - Close Readings of Documentary Film and Video, Detroit: Wayne State University Press 1998, S. 223-237
Tom W. Hoffer und Richard Alan Nixon: Docudrama on American Television, in: Alan Rosenthal (Ed.): Why Docudrama? - Fact-fiction on Film and TV, Cabondale / Edwardsville: Southern Illinois Universoty Press 1999, S. 64-77
Parker Taylor: Documentary Technique in Film Fiction, in: Lewis Jacobs (Ed.): The Documentary Tradition, New York / London: Norton 1979, 251-266 (zuerst veröffentlicht in American Quaterly, Summer 1949)
Links
War of the Worlds:
www.war-ofthe-worlds.co.uk
Emanuel Levys Artikel Once Upon a Time, When Radio Was King...
New York Times Artikel über Reaktionen auf WotW: Radio Listeners in Panic, Taking War Drama as Fact
Trenton Evening Times Artikel vom 31. Oktober 1938
The Mercury Theatre on the Air
Cinema Verité / Direct cinema
Artikel über Cinema Verité in Deutschland mit Ausschnitt aus Dieter Ertel/Georg Friedls Film "Fernsehfieber" von 1963
Senses of cinema Sensesofcinema Artikel über Donn Alan (D. A.) Pennebakers Klassiker Don't Look Back
Artikel von screen online zum Thema
Dokudrama
Dokumentation und Wirklichkeit 2: Von Cinema verité zum Re-enactment
orcival
12. Dezember 2006
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Der Film wurde zwar schon auf dem einen oder anderen Blog besprochen, aber weder leide ich an Originalitätszwang noch stehen andere Gründe einer erneuten Empfehlung entgegen.
Seitdem "Leroy räumt auf" vor einiger Zeit auf Arte (wo sonst?!) lief und zwar in Kurzschluss meinem persönlichen Argument für save.tv bin ich schwer begeistert und gucke ihn immer wieder mit Leuten.
Worum gehts? Armin Völckers hat schlicht einen wahrscheinlich den besten Film über Stereotype in Deutschland gedreht. Zwar nicht mal eben so, aber halt doch sehr locker. Und mit vielen vielen grandiosen aberwitzigen Ideen.
Schaut auf Marty Schenks Seite. Das ist der Editor des Films.
Oder ladet ihn hier, sogar ganzganz legal runter. Zur Auswahl steht sogar eine Fassung mit oder ohne englische Untertitel.
So viel Internationalität ist ja leider selten bei deutschen Filmen...
Und so wie
das aussieht, darf man sich wohl auf nächsten Sommer freuen...
orcival
9. Dezember 2006
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Es schimmerte ja wohl schon durch, dass ich gerade aus vielerlei Gründen ein offenes Auge für Filme mit Bedrohungsszenarien habe. Konjunktur haben derzeit offenbar vor allem Filme zu Bioterror und/oder sonstigen Illustrationen für vermeintliche Gefahren jenes asynchronen Krieges, der in man weiss nicht genau was bestehen soll.
Eine der spannendsten, wenn auch zu Recht umstrittensten Formen ist dabei die Vermischung von dokumentarfilmartigen Elementen mit Fiktion, bzw Fictionfilms, die sich den Schein einer Dokumentation geben.
Nun ist natürlich nicht immer leicht zu beurteilen inwiefern, das ein Spiel ist, das man als Zuschauer durchschaut, womöglich durchschauen soll, wie etwa in "The Office", oder ob nicht die (politische) Wirkung gerade im aufrechterhaltenen Schein des Dokumentarischen besteht. Letzteres etwa in den Filmen des schon notorischen Dan(iel) Percival wie "Smallpox 2002 - Silent Weapon" oder "Dirty War".
Mark Almond versucht in seinem Artikel "Red Mercury or Red Herring?", Dirty War und dessen Vermarktung durch die BBC politisch einzuordnen.
Wenn einem das Thema bis vor kurzem so fremd war wie mir, ist man froh, einigermassen verlässliche Infos zur Erdung zu finden, recht brauchbar scheinen mir die Seiten des CDC und des Center for Biosecurity zum Thema Pocken zu sein.
Zu Dirty War gibt es hier noch die DVD-Talk Rezension.
orcival
6. Dezember 2006
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Gidi Dar: Ushpizin
Die Situation ist vertrackt für Moshe Bellanga: einen Tag vor Sukkot und keinen Shekel für die Feiertage. Auch von einer Sukkah fehlt jede Spur.
Die Geldsorgen lösen sich auf schnell auf überraschende Weise, und auch eine Sukkah treibt ein Freund schliesslich auf, aber die Sache mit der Sukkah hat einen Haken und als sich schliesslich Gäste einstellen (Ushpizin heisst auf aramäisch Gäste), ist die Feiertagsruhe vollends dahin. Die beiden sind nämlich entflohene Gefangene und nehmen eigentlich nur die Gelegenheit wahr, ein paar Tage unterzutauchen. Und auf diese Weise können sie sich auch noch umsonst den Bauch vollschlagen...
Gidi Dar hat es geschafft, mit Ushpizin einen Film zu machen, dessen unter den Jerusalemer Haredim angesiedelte Handlung mit sehr humorvollen und säkularen Elementen bereichert wird. Dadurch vermeidet er sowohl anatevka-artige Bilder, wie auch das Gegenbild des reaktionären Haredi wie es etwa Gitais Kadosh zeichnet.
Shuli Rand (Protagonist und Drehbuchautor und der einen oder dem anderen vielleicht noch aus LIFE ACCORDING TO AGFA eine Erinnerung) und seine (auch im wirklichen Leben) Frau Michal Bat-Sheva Rand beeindrucken durch hervorragende Leistung. Vor allem Michal Bat-Sheva Rands Leistung überrascht vor dem Hintergrund, dass sie keinerlei Schauspielerfahrung hat. Dabei verdankt der Film ihr einige seiner stärksten Szenen, wie das Karaoke Dankes-Singen. Die Musik des Films fällt überhaupt - vor allem bei den Songs - sehr angenehm auf.
Und so ist wirklich das einzige Wermutströpfchen wie Benjamin Rosendahl in seiner Kritik ganz richtig bemerkt, die Tatsache, dass die beiden flüchtigen Gefangenen sehr klischeehaft als Mizrahim (nordafrikanische Juden) dargestellt werden.
Es steht zu hoffen, dass Ushpizin ein paar der Bilder über Haredim ins Wanken bringt, die immer noch erstaunlich verbreitet sind. Für alle anderen ist Ushpizin einfach grossartiges Kino zu einem vielleicht ungewohnten Thema...
Ansonsten sei darauf hingewiesen, dass Rosendahls Kritik unter anderem wegen der sehr lesenwerten Schilderung der Entstehung des Films alle Mal einen Klick wert ist.
Wem das alles noch nicht reicht, der findet hier ein Interview von David D'Arcy mit Gidi Dar und auf der Website des Films kann man sich sogar ein paar Clips anschauen...
Ushpizin ist demnächst hier entleihbar.
orcival
30. November 2006
(0 Shpiel)
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Schon jetzt ist Yacoubian Haus auch hierzulande sicherlich einer der meistbesprochenen ägyptischen/arabischen Filme seit langem. Einen Verleih scheint er deswegen aber noch lange nicht zu finden.
Yacoubian Building schildert, um zunächst den Inhalt zu skizzieren, anhand der Bewohner eines noblen Hauses in der Innenstadt von Kairo, einige Facetten der ägyptischen Gesellschaft.
Die Charaktere sind durchaus gut gewählt: ob der Dandy der seinen Zenit deutlich überschritten hat (erstaunlich gut gespielt von Adel Imam, der normalerweise eher klamaukige Massenware verbricht), der bigotte Politiker, der von noch skrupelloseren Polit-Mafiosis ausgenommen wird (der wie immer brilliante Nour El-Sherif) und Hend Sabri als junge Frau, die ständig sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist bis sie von eben obigem Dandy als Bürohilfe angestellt wird und die beiden schliesslich ein Paar werden. Die Figur, die den meisten Aufruhr auslöste beim Start des Films in Ägypten aber war erwartungsgemäss die Figur des homosexuellen Hatem Rachid (gespielt von Khaled El Sawy).
In am Anfang dramaturgisch durchaus gelungener Weise durchkreuzen und ergänzen sich die Handlungsstränge des Films. Mit der Zeit jedoch zeigen sich auch bei diesem Film die Probleme eines Episodenfilmes recht deutlich, denn zum einen ist der Film mit 160 Minuten schlicht ca 1 Stunde zu lang und zum anderen lassen speziell die jeweiligen Auslösungen der Handlungsstränge immer wieder erwarten, der Film sei nun zu Ende worauf aber stets noch ein Nachtrag folgt.
Hierzulande dürfte die Darstellung Hatem Rachids in nicht-homophoben Kreisen eher Befremden auslösen, ob unverarbeiteter Konflikt mit den Eltern, Promiskuität oder das Ende, in dem Hatem von seiner neusten Eroberung ermordet und ausgeraubt wird, die Klischees halten frohes Stelldichein.
Überhaupt hätte es dem Film eher gut getan, etwas weniger symbolhaft zu sein. Denn auch das Duell zwischen Taha (gespielt von Adel Imams Sohn Mohamed Imam), der als Sohn des Portiers nicht zur Polizeiakademie zugelassen wird und seinem Gegenüber, der zum Polizeidienst zugelassen wurde und ihn später, als Taha schon Muslimbruder ist, brutal verhört und schliesslich von Taha erschossen wird, ist weder glaubwürdig noch sonderlich originell. Eine zufälliger Gegenüber hätte hier eventuell die Episode gerettet.
Bosnainas Rolle als junge Frau, die ihre Familie durchbringen muss und von allen möglichen schleimigen Widerlingen belästigt wird ist ebenso zwiespältig. Wenn man die Rolle der Bosnaina mit etwa den Frauenrollen in Djamila Sahraouis brilliantem Barakat vergleicht, wird klar, wie passiv Bosnaina geschildert ist.
Als Fazit bleibt also zu sagen, dass der Film als Dokument der ägyptischen Gesellschaft durchaus spannend ist. Auch die technische Seite des Films, etwa was die Kamera oder den Einsatz der Musik angeht lässt durchaus Gutes von Marwan Hamed erwarten (immerhin ist Yacoubian Haus Hameds Debutfilm), aber die oben bereits beklagt Länge des Films vermindern das Vergnügen doch erheblich.
Aus den schier zahlosen Artikeln zum Film hier eine kleine Auswahl:
Ein Interview mit dem Autor der Romanvorlage Alaa El Aswany.
Die unqualifizierteste Besprechung, die mir untergekommen ist und - quasi das andere Ende der Skala - Kristina Bergmann Besprechung des Films für die NZZ.
orcival
28. November 2006
(3 Shpiels)
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